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Arbeitskämpfe im Wandel – Wie kluge Verhandlungsstrategien Streik vermeiden können

Arbeitskämpfe im Wandel

In Zeiten hoher Inflationsraten und Arbeitskräftemangels hat sich der Verteilungskonflikt intensiviert. Wie können effektive Verhandlungen in diesem Kontext aussehen und wie kann der Dialog zwischen den Parteien verbessert werden? Thorsten Hofmann, Experte für Verhandlungen, liefert Antworten.

Weswegen wird in Deutschland in so vielen Bereichen so viel gestreikt? 

Es könnte den Eindruck erwecken, dass Deutschland ständig von Streiks heimgesucht wird. Dieser Eindruck ist jedoch irreführend. Zwar gab es in jüngster Zeit eine Reihe von Arbeitskämpfen, wie den mehrtägigen Streik der Lokführer bei der Deutschen Bahn, gefolgt von einem bundesweiten Streik im öffentlichen Nahverkehr und einem Warnstreik des Bodenpersonals bei der Lufthansa. Diese Streiks im Verkehrsbereich haben den Eindruck verstärkt, dass es mehr Streiks gibt als früher, da sie viele Menschen in ihrem Alltag betreffen.

Trotz der scheinbaren Zunahme von Streiks ist Deutschland im internationalen Vergleich jedoch nicht besonders streikfreudig. Laut Zahlen der Bundesagentur für Arbeit liegt Deutschland mit sieben ausgefallenen Arbeitstagen je 1000 Arbeitnehmern im Jahr im unteren Mittelfeld, weit hinter Ländern wie Frankreich und Dänemark. Das Jahr 2024 könnte jedoch noch mehr Streiks mit sich bringen, da Tarifrunden in der Chemie- und Baubranche sowie in der Metall- und Elektroindustrie anstehen.

Es wird erwartet, dass in diesen Branchen gestreikt wird, obwohl die Auswirkungen wahrscheinlich weniger spürbar sein werden als im Verkehrssektor. Ähnlich wie der seit zehn Monaten schwelende größte Tarifkonflikt in Deutschland. Für rund fünf Millionen Beschäftigte im Einzel- und Großhandel versucht Verdi bislang vergeblich Lohnforderungen durchzusetzen, weil die Streikbereitschaft, der zumeist in Teilzeit arbeitenden Beschäftigten gering ist.

Was beeinflusst die „neue“ Streikkultur? 

Die „neue“ Streikkultur wird von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Einer davon ist die historisch hohe Inflationsrate, die den Verteilungskonflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verschärft hat. In den Jahren der Corona-Pandemie stagnierten die Einkommen, während die Inflation die Realeinkommen von 2021 bis 2023 ins Minus drückte. Dies hat die Gewerkschaften dazu veranlasst, Nachholbedarf geltend zu machen.

Ein weiterer Faktor ist die schrumpfende Mitgliederbasis der Gewerkschaften. Um dem entgegenzuwirken, haben sie Arbeitskämpfe zur Mitgliedermobilisierung und Mitgliederakquise genutzt. Ein Beispiel dafür ist Verdi, die in den Kitas und Krankenhäusern erfolgreich waren. Der aktuelle Arbeitskräftemangel und die Demographie spielen ebenfalls eine Rolle. Arbeitnehmer, die sich um ihren Arbeitsplatz keine Sorgen machen müssen, sind eher bereit zu streiken. Dies hat die Verhandlungsmacht zugunsten der Arbeitnehmer und Gewerkschaften verschoben.

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat festgestellt, dass die Verhandlungen in 20 ausgewählten Branchen im Jahr 2023 eskaliert sind wie noch nie. Auf einer siebenstufigen Skala von 0 für Verhandlungen am Tisch bis hin zu 7 für Streik und Aussperrung erreichte das Jahr 2023 einen Wert von 3,0. Laut Hagen Lesch, Leiter Arbeitswelt und Tarifpolitik im IW, sind das 0,8 Punkte mehr als im langjährigen Durchschnitt. Der bisherige Höchstwert lag im Jahr 2015 bei 2,8. Dies zeigt, dass die Streikkultur sich verändert.

Was sind die Schlüsselkompetenzen, die für effektive Verhandlungen benötigt werden?

Vor dem Hintergrund historisch hoher Inflationsraten hat sich der Verteilungskonflikt deutlich intensiviert. Der Arbeits- und Fachkräftemangel stärkt die die Verhandlungsposition der Beschäftigten. Mit neugewonnener Macht gilt es jedoch auch verantwortlich umzugehen. Die Forderungen von heute sollten nicht zur Arbeitsplatzverlusten von morgen führen. Für die Arbeitgeber gilt es allerdings auch die neuen Rahmenbedingungen anzuerkennen und nicht in den Forderungsvorstellungen von Gestern zu verharren.

Beides wird nur funktionieren, wenn beide Seiten ein Grundvertrauen ineinander haben und nach Lösungen suchen. Übereinander reden behindert und verlangsamt den Vorgang der Lösungsfindung. Persönliche Beleidigung in Medien und Öffentlichkeit vertiefen die Kluft, die es zu überwinden gilt.

Deshalb gehört es zu den Schlüsselkompetenzen Verhandelnder ein Grundvertrauen aufzubauen, die veränderten Rahmenbedingungen zu bewerten und als Grundlage für realistische Zielentwicklung zu nutzen, der anderen Seite zuzuhören um das Abhängigkeitsgeflecht des Verhandlungspartners besser zu verstehen, auf der sachlichen Ebene nach Lösungen zu suchen und die Beziehungsebene nicht zu beschädigen. Zudem sollten Ergebnisse am Verhandlungstisch erzielt werden und nicht Wasserstandsmeldungen in der Öffentlichkeit besprochen werden.

Wie kann der Dialog zwischen den Parteien verbessert werden, um über Probleme zu sprechen, anstatt über sie zu streiten?

Eine effektive Methode zur Verbesserung des Dialogs zwischen den Parteien besteht darin, zunächst über Angebote und Lösungen zu verhandeln, anstatt sofort zu streiken. Ein solcher Ansatz kann dazu beitragen, das öffentliche Bild der Gewerkschaften zu verbessern und Forderungen nach einer stärkeren Regulierung des Streikrechts zu vermeiden. Es ist wichtig zu betonen, dass Tarifautonomie und Streikrecht nicht einfach beiseite geschoben werden sollten, wenn die Verhandlungen schwierig werden. Jedoch sollte das Streikrecht nicht übermäßig genutzt werden, wenn Gewerkschaften als glaubwürdige Lösungssucher wahrgenommen werden wollen.

Ein sinnvoller Ansatz könnte darin bestehen, dass die Parteien zunächst den Prozess und den Zeitplan der Verhandlungen festlegen, bevor sie über die Inhalte sprechen. Es sollte auch ein Eskalationsmechanismus definiert werden. Wenn nach 15-20 Verhandlungstagen kein Fortschritt feststellbar ist, könnte ein Schlichtungsverfahren eingeleitet werden, das in vielen Bereichen bereits existiert. In diesem Verfahren wird unter der Leitung einer neutralen Instanz und abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit weiter nach Lösungen gesucht.

Sollte auch dieses Verfahren scheitern, bleibt der Streik als ultimatives Mittel immer noch eine Option. Dies würde zeigen, dass Arbeitskämpfe gut durchdacht und abgewogen werden, und Gewerkschaften alles versucht haben, um zu einer Lösung mit dem Arbeitgeber zu kommen. Der Rückhalt in der Bevölkerung wäre nachhaltiger.

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Dieses Interview mit Verhandlungsexperte Thorsten Hofmann erschien im „Foucs online“ am 29.01.2024 und ist hier abzurufen.



Thorsten Hofmann, C4 Center for Negotiation

Thorsten Hofmann ist Lehrbeauftragter für wirtschaftliches und politisches Verhandlungsmanagement und Krisenkommunikation an der Quadriga Hochschule Berlin. Er leitet das C4 Center for Negotiation.

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