Skip to main content

Affect Labeling: Gefährliche Emotionen in Verhandlungen entschärfen

Kennen Sie das? Sie sitzen in einer Verhandlung, Ihr Gegenüber wird immer lauter, die Argumente prallen aufeinander – und plötzlich merken Sie, wie die Situation eskaliert. Die Emotionen kochen über, und die Logik verabschiedet sich komplett. Die Luft knistert vor Spannung und Sie fragen sich, wie Sie eigentlich hier gelandet sind.

Die guten Nachrichten: Das Ganze hat eine neurologische Grundlage – und mit ein bisschen neurowissenschaftlichem Wissen können Sie solche Situation in Zukunft bewusst entschärfen und wieder auf Kurs bringen.

Was passiert im Gehirn bei Verhandlungsstress?

Während hitziger Verhandlungen dreht unser Gehirn völlig auf. Emotionen wie Wut, Angst oder Frustration übernehmen das Steuer – gesteuert vom limbischen System, unserem emotionalen Kontrollzentrum. Gleichzeitig schüttet der Körper das Stresshormon Cortisol aus, das unser klares Denken blockiert. Es kommt kein klarer Gedanke mehr zustande, wir verfallen in einen internen Dialog und sind nicht mehr offen für die Worte des Gegenübers. Der Grund: Das Gehirn sieht die Verhandlung oder den Verhandlungsgegenüber als Bedrohung und schaltet in den „Kampf oder Flucht“-Modus. [1]

Wir wollen am liebsten flüchten oder den anderen angreifen. Das klingt nach einer Sackgasse, nicht wahr? Zum Glück gibt es einen Ausweg. Und der beginnt genau dort, wo die Neurowissenschaft ins Spiel kommt: Sie zeigt uns, wie wir den Teufelskreis emotionaler Reaktionen durchbrechen können, um wieder in einen ruhigen, lösungsorientierten Zustand zu kommen.

Der Trick: Spannung benennen mit dem Affect Labeling

Eine der effektivsten Techniken, um Verhandlungsstress zu entschärfen, ist das Affect Labeling. Es zielt darauf ab, potenzielle Vorwürfe und negative Emotionen des Gegenübers direkt anzusprechen, wodurch eine Grundlage für eine offenere und produktivere Kommunikation geschaffen wird. Es ist eine präventive Verhandlungstaktik, bei der Sie annehmen, was die andere Seite denken oder fühlen könnte, und diese Emotion proaktiv ansprechen, bevor die Emotion sich weiter in Ihrem Gegenüber ausbreitet, die Kontrolle über seine Handlungen gewinnt und die Situation eskaliert.

Sie sprechen also die negativen Emotionen Ihres Gegenübers direkt an. Ja, wirklich! Indem Sie ansprechen, was der andere vielleicht denkt oder fühlt, helfen Sie seinem Gehirn, aus dem Stressmodus herauszukommen. Formulierungen wie „Vielleicht fühlen Sie sich gerade frustriert, weil Sie den Eindruck haben, dass ich Ihre Bedenken nicht ernst nehme“ wirken wie ein Reset-Knopf. Diese Wirkung entsteht, weil das Gehirn die benannte Emotion bewusst verarbeiten kann. Dadurch wird die Stressreaktion des Köpers reduziert und der Weg für eine sachlichere Kommunikation geebnet. Sie geben beiden Seiten die Möglichkeit, neu anzufangen.

Warum das funktioniert: Die Wissenschaft hinter dem Affect Labbeling

Das Ganze ist keine Magie, sondern Neurowissenschaft. Um dies zu verdeutlichen, betrachten wir ein konkretes Beispiel aus der Verhandlungswelt: Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einer hitzigen Diskussion und sagen Ihrem Gegenüber: „Möglicherweise fühlen Sie sich gerade nicht ausreichend wertgeschätzt.“

Diese Aussage kann die emotionale Spannung reduzieren und den Fokus zurück auf eine lösungsorientierte Kommunikation lenken. Andrew Huberman, Neurowissenschaftler und Professor an der Stanford University, erklärt: „Wenn wir eine Emotion benennen, verschieben wir sie vom Unterbewusstsein ins Bewusstsein. Dadurch verliert sie ihre destruktive Kraft und wird beherrschbarer.“ Diese Technik neutralisiert die Macht starker Gefühle. Indem Sie eine Emotion aus dem Unterbewusstsein ins Bewusstsein holen, wird sie entschärft. [2]

Dr. Matthew D. Lieberman bestätigt das mit seiner Forschung: „Das Benennen von Emotionen ist wie eine Übersetzung emotionaler Signale in Worte. Es hilft, die Amygdala zu beruhigen und ermöglicht dem präfrontalen Kortex, die Kontrolle zu übernehmen.“ In einer Studie zeigte er, dass das Benennen von Emotionen die Aktivität der Amygdala – dem Zentrum für Angst und Stress – deutlich reduziert. Das Ergebnis: weniger emotionale Reaktionen, mehr Klarheit. [2]

Praxisbeispiel 1: Unternehmensverhandlungen

In einer Einkaufsverhandlung, die ich mitbegleitet hatte, glaubte eine Partei, dass ihre Anliegen nicht ernst genommen werden. Das Verhalten am Tisch wurde zunehmend konfrontativer. Statt dies zu ignorieren, sagte der Verhandlungsführer meines Teams: „Sie denken vielleicht, dass wir Ihre Prioritäten nicht respektieren.“ Dieser einfache Satz löste die Spannung und lenkte die Diskussion in eine konstruktivere Richtung.

Praxisbeispiel 2: Konflikte im Team

Ein Manager, der zwischen zwei Streitenden vermittelt, sagte: „Sie haben vielleicht beide das Gefühl, dass ihre jeweiligen Standpunkte nicht gehört werden.“ Beide Seiten wurden ruhiger und fühlten sich verstanden. Danach waren sie wieder bereit sich zuzuhören.

Praxisbeispiel 3: Diplomatische Verhandlungen

In einer politischen Verhandlung, die ich mitbegleitet hatte, sagte ein Verhandler: „Vielleicht denken Sie gerade, dass ich nicht nachvollziehen kann, wie beschäftigt Sie sind oder was Sie täglich mit ihren Parteimitgliedern durchmachen müssen.“

Diese Aussage öffnete die Tür zu einer konstruktiven Diskussion – statt zu einer Eskalation.

Der Grund dafür: Stresshormone wie Cortisol sinken, und der präfrontale Kortex – unser Denkhirn – übernimmt wieder das Steuer. Statt impulsiv zu reagieren, beginnt Ihr Gegenüber, rational zu denken. [4]

Spannung ansprechen statt ignorieren

Die nächste Frage, die Sie sich in Zukunft stellen sollten, wenn es in einer Verhandlung hoch hergeht: Ignoriere ich die Spannung, oder spreche ich sie an? Das Ansprechen der Emotionen im Raum kann den Unterschied zwischen einer erfolgreichen Einigung und einer verfahrenen Situation machen.

Indem Sie die Neurowissenschaft hinter Emotionen verstehen, werden Sie nicht nur ein besserer Verhandler, sondern auch ein besserer Kommunikator. Probieren Sie es aus: Sprechen Sie die Emotionen in Ihrer nächsten Verhandlung direkt an und beobachten Sie, wie sich die Dynamik verändert. Sie werden sehen, dass kleine Anpassungen oft große Wirkung zeigen. Mit Techniken wie dem Affect Labeling können Sie die Spannung aus jeder Verhandlung nehmen – und den Weg für echte Lösungen freimachen. Verstehen Sie die Emotionen hinter den Worten und nutzen Sie sie als Schlüssel, um festgefahrene Situationen zu lösen und Verhandlungen in neue Bahnen zu lenken.


Quellen

[1] McEwen, B. S., & Gianaros, P. J. (2011). Stress- and allostasis-induced brain plasticity. Annual Review of Medicine, 62, 431-445.

[2] Huberman, A. (2022). The science of emotions in negotiation. Fireside Podcast. Retrieved from https://www.youtube.com/watch?v=q8CHXefn7B4

[3] Lieberman, M. D., Eisenberger, N. I., Crockett, M. J., Tom, S. M., Pfeifer, J. H., & Way, B. M. (2007). Putting feelings into words: Affect labeling disrupts amygdala activity in response to affective stimuli. Psychological Science, 18(5), 421-428.

[4] Huberman, A. (2021). Power of labeling emotions for better mental health. YouTube Video. Retrieved from https://www.youtube.com/watch?v=tvUUdpNX-Ko


Thorsten Hofmann, C4 Center for Negotiation

Thorsten Hofmann ist Lehrbeauftragter für wirtschaftliches und politisches Verhandlungsmanagement und Krisenkommunikation an der Quadriga Hochschule Berlin. Er leitet das C4 Center for Negotiation.

Weitere Artikel von Thorsten Hofmann
Zum Autorenprofil | Zum Institute C4| Zur Quadriga Hochschule Berlin