Zu viele Köche verderben den Brei: Die Verhandlungen zur Jamaika-Koalition
Der 24. Oktober ist so ein Tag, der vor allem im politischen Berlin in den Kalendern der Büros rot eingefärbt sein dürfte. Um 11 Uhr soll Wolfgang Schäuble die konstituierende Sitzung für die kommende, 19. Legislaturperiode eröffnen. Das ist zumindest der derzeitige Plan. Ob bis dahin – Sitzung hin oder her – die eigentlichen Koalitionsverhandlungen entsprechend vorangeschritten sind oder überhaupt schon begonnen haben, steht noch in den Sternen.
In der Hauptstadt sehen diesbezüglich mittlerweile viele Schwarz und die Gerüchteküche brodelt. Grüne, FDP und die Union würden wahrscheinlich schon an der bloßen Einhaltung des groben Zeitplans scheitern, heißt es in skeptischen Kreisen. Dabei soll noch vor dem CSU-Parteitag am Wochenende des 17. und 18. November eine Fassung des Koalitionsvertrages präsentiert werden. Danach folgen die Abstimmungen. Bei der CDU auf dem Bundesparteitag, bei FPD und Grünen durch die kritische Parteibasis. Der Zeitplan ist ambitioniert und erscheint durchaus fragil.
Zum Vergleich: Nach der Bundestagswahl 2013 starteten die späteren Koalitionspartner CDU/CSU und SPD Ende Oktober in die Verhandlungen. Rund zwei Monate später dann, am 17. Dezember 2013, standen die Große Koalition und damit auch das Kabinett Merkel III fest. Noch schneller liefen die Verhandlungen nach den Wahlen im Jahr 2009. Nach rund drei Wochen war die schwarz-gelbe Koalition in trockenen Tüchern und wurde bereits Ende Oktober desselben Jahres von allen drei Regierungsparteien unterzeichnet.
Diesmal dürfte es länger dauern. Bedeutend länger. Der bloße Start der Sondierungsgespräche hat bereits gezeigt, dass die Parteien inhaltlich noch meilenweit voneinander entfernt sind. Und in die eigentlichen Koalitionsverhandlungen geht es überhaupt erst, wenn in den Sondierungen zumindest grobe gemeinsame Linien erkannt und abgestimmt werden konnten. Die eigentlich kritischen Inhalte kommen dabei allerdings erst ganz zum Schluss.
Die Problematik großer Teams in Verhandlungen
Den Auftakt zu den Gesprächen markierten bilaterale Gespräche zwischen den Parteien. CDU/CSU haben bereits erste gemeinsame Sitzungen mit der FDP abgehalten. Im Anschluss folgen nun Einzelgespräche mit den Grünen, ehe es dann in großer Runde in die erste Sondierung geht. Doch anders als bei den Klassikern unter den Koalitionsverhandlungen wie Schwarz-Gelb oder Rot-Grün belasten neben inhaltlichen Unterschieden, die an sich schon einen immensen Druck auf die Koalitionsverhandlungen ausüben, nicht zuletzt auch der Einzug der AFD in den Bundestag und Personalfaktoren die Gespräche. Sowohl CDU/CSU als auch Grüne und FDP gehen mit jeweils deutlich mehr als 13 Personen starken Teams in die Sondierungsgespräche. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass aus den einzelnen Teams insgesamt rund 56 Personen zusammenkommen. In den darauffolgenden Koalitionsverhandlungen wird die Gruppe wohl noch weiter anwachsen. Doch große Teams – meist auch noch gekennzeichnet durch die Besetzung mit vollkommen unterschiedlichen Charakteren – sind einem idealen Verhandlungsverlauf alles andere als zuträglich. Deutlicher formuliert: Sie können ihm sogar schaden.
Wenn mehrere Menschen gemeinsam Ihre Positionen abstecken, Anker setzen und Übereinstimmungen und Ziele herausarbeiten sollen, dann ist dies immer mit besonderen Herausforderungen für a) das Team und b) für die einzelne Person verbunden. Am Verhandlungstisch kommt es zu einem hochkomplexen Zusammenspiel verschiedener Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessenslagen. Ohne Abstimmung entsteht daraus schnell Chaos. Wenn jeder glaubt, in der Verhandlung einen Beitrag leisten zu müssen, ist es gut möglich, dass am Ende nichts dabei rauskommt. Das ist genauso, wie wenn man kleinen Kindern beim Fußballspielen zusieht. Der Ball wird in die Runde geworfen und alle stürzen sich gleichzeitig drauf. Jeder versucht, alles zu machen und bei allem dabei zu sein. Eine Teamaufstellung oder klare Rollen- und Aufgabenverteilungen gibt es nicht. Disziplin ist nicht gefragt. Gleiches passiert auch bei Verhandlungen im wirtschaftlichen und politischen Kontext. Wenn nicht genau geklärt ist, wer wann was sagt und vor allem auch nichts sagt, wenn nicht klar ist, wer welche Rolle in der Verhandlung einnimmt, dann ist Scheitern vorprogrammiert. Hinzu kommen mögliche Interessenskonflikte im eigenen Team. Das können zum Beispiel unterschiedliche Auffassungen über inhaltliche Ausrichtungen (wie zwischen CDU und CSU), das Bedienen des eigenen Flügels in der Partei oder der Wunsch nach Profilierung für einen zukünftigen Posten sein. Durch solche meist individuellen Interessen geraten die eigentlich wichtigen Themen in großen Teams schnell in den Hintergrund. Deshalb ist Vorbereitung alles und Masse (des Verhandlungsteams) nicht Klasse. Je mehr Köpfe ich aus meinem eigenen „Team“ an den Verhandlungstisch bringe, desto mehr muss ich auch in die Vorbereitung investieren. Und je mehr Teilnehmer aus meinem Team am Tisch sitzen, desto mehr potentielle Fehlerquellen habe ich auch. Jede verbale und nonverbale Äußerung versorgt mein Gegenüber mit Informationen. Jede unbewusste und bewusste Äußerung in den Medien kann zu Verwerfungen am Verhandlungstisch führen.
Reihenfolge beachten: Erst intern einigen, dann extern handeln.
Vorbereitung heißt gerade auch in politischen Verhandlungen, die unbequemen Interessenlagen der verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei miteinander „vorzuverhandeln“, um dann mit einer klaren Position in die Verhandlungen mit den politischen Wettbewerbern und neuen Koalitionspartnern zu gehen. Und gerade das wird bei einer Vier-Parteien-Verhandlung mit divergierenden Interessenslagen und unterschiedlichen Wählerklientelen eine historisch beispiellose Herausforderung. Eine erstmalige und damit neue Form der bundespolitischen Verhandlung.
Bereits jetzt sind erste kleinere taktische Manöver der künftigen Verhandlungspartner erkennbar. Den Auftakt machten CSU und CDU, indem Seehofer und Merkel eine Einigung im schwelenden Obergrenzenstreit erzielt haben. Statt „Obergrenze“ heißt es nun „Schwellenwert“. „Umdeutung“ oder „Re-Framing“ ist der schöne Fachbegriff in der Verhandlungswissenschaft. Diese Umdeutung war dringend notwendig, denn der gescholtene und negativ besetzte Begriff „Obergrenze“ ist damit vorerst vom Tisch. Gerade die Grünen hatten hiermit besondere Schwierigkeiten. Taktisch problematisch wird es aus Verhandlungsperspektive allerdings dann, wenn mehrere Parteien „rote Linien“ setzen und die einzelnen Positionen unvereinbar scheinen. Deshalb ist niemand gut damit beraten, in den Medien diese „roten Linien“ zu ziehen. Man beschädigt sich am Ende nur selbst und erschwert den Verhandlungsfortschritt. Denn zu einem sind die Verhandlungspartner gezwungen: Zur Einigung am Verhandlungstisch. Und wer sich jetzt öffentlich schon extrem festlegt wird danach auch öffentlich als der Schuldige ausgemacht, wenn die Verhandlungen scheitern. Und das verschlechtert die Karten für eine Wiederwahl.
Fazit: Die Vorbereitungen auf die Verhandlungen und einzelne Verhandlungsrunden sind Schlüssel für den Erfolg
Koalitionsverhandlungen sind komplex. Sie gehören zu den schwierigsten Verhandlungen im politischen Umfeld. Den Verhandlungspartnern Union, FPD und die Grünen ist bewusst, dass ein Scheitern der Verhandlungen als Schwäche ausgelegt werden kann und etwaige Neuwahlen die politische Konstellation erschweren können. Daraus resultiert ein extrem hoher Erwartungsdruck auf die Parteien, sich zu einigen. In diesem Zusammenhang ist es von besonderer Wichtigkeit, einen Zeitplan abzustecken, der realistisch ist. Der derzeit für die Verhandlungen angesetzte Zeitraum bis Mitte November erfüllt diese Voraussetzung wohl kaum. Gute Vorbereitung, eine durchdachte und konkrete Teamaufstellung und angemessene Deeskalationsmechanismen sowohl in als auch außerhalb der Verhandlungen sind elementare Bestandteile, die vorher abgestimmt werden müssen. Schließlich geht es um nichts Geringeres als ein tragfähiges Ergebnis, das die nächsten 4 Jahre hält.
Eines ist zumindest gewiss: Den involvierten Parteien stehen wahrscheinlich die längsten Koalitionsverhandlungen in der Geschichte Deutschlands bevor. Und das ist – in Anbetracht der komplexen Umstände – auch nicht schlimm, sondern sinnvoll, damit ein gutes Ergebnis erzielt werden kann.
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