Wahrnehmungsfehler und Bias in Verhandlungen
„Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in der Wahrnehmung wäre“, sagt ein arabisches Sprichwort. Genaues Zuhören und Beobachten ist in Verhandlungen eine erfolgskritische Fähigkeit. Sie macht den Unterschied zwischen einer richtigen und einer falschen Entscheidung aus und führt zu einem guten oder schlechten Verhandlungsergebnis. Aber ist wirklich alles so wie wir es „wahrnehmen“? Oder unterliegen wir hier auch Verzerrungen und Manipulationen? Wie PsychologInnen und VerhaltungsökonomInnen in zahlreichen Studien herausgefunden haben, beeinträchtigen kognitive Verzerrungen unsere Möglichkeit, gute und fundierte Urteile zu fällen. Auch wenn wir vermeintlich rational in eine Verhandlung gehen, zeigt die Forschung: Menschliche Entscheidungen neigen dazu, fehlerhaft und befangen zu sein.
Psychologen haben mehrfach festgestellt, dass Menschen ihre Entscheidungen nicht unter Berücksichtigung und rationaler Einbeziehung aller verfügbaren Informationen treffen, sondern Heuristiken und sogenannte Shortcuts verwenden. Dabei greifen wir auf bereits vorhandenes Wissen, inhärente Wertvorstellungen und vergangene Erfahrungen zurück. Der Grund dafür ist evolutionär bedingt: Unser menschliches Gehirn ist im Vergleich zu anderen Organen ein riesiger Energiefresser: Obwohl es nur etwa zwei Prozent der gesamten Körpermaße ausmacht, ist es für fast 20 Prozent des gesamten Energieverbrauchs verantwortlich. So braucht unser Gehirn ca. 50 Prozent mehr Energie, als unser Herz. Dementsprechend hat unser Organismus im Laufe der Evolution gelernt, möglichst ressourcenschonend mit dem Energieverbrauch des Gehirns zu arbeiten. Das bedeutet, dass tiefere Denkprozesse reduziert werden, während unser Gehirn versucht Abkürzungen auf Basis von Erfahrungen und gelernten Regeln zu nehmen. Dies führt wiederum leider auch dazu, dass es träge im Denkprozess bzw. beim Durchdenken wird und sich der Illusion der schnellen und einfachen Lösung hingibt. In einfachen Worten: Unser wunderbares Gehirn ist eher faul und träge anstatt fleißig und akribisch. Dies kann in vielen Fällen zu schnellen und manchmal auch zu guten Entscheidungen führen, in manchen Fällen jedoch auch zu systemischen Fehlern in der Entscheidungsfindung. Von professionellen Verhandlungsführerinnen und -führern wird dieser Umstand gerne gegen das jeweilige Gegenüber eingesetzt.
Zu häufigen Wahrnehmungsverzerrungen in Verhandlungen gehört zum Beispiel übertriebener Optimismus und übermäßiges Selbstvertrauen. Wir überschätzen dann das Eintreffen eines positiven Verhandlungsergebnisses und halten negative Entwicklungen für unwahrscheinlicher als sie tatsächlich sind. Zusätzlich schätzen wir unsere Kompetenz im Vergleich zu unserem Verhandlungsgegner zu hoch ein, ebenso wie unsere Fähigkeit, die Verhandlung in unserem Sinne zu beeinflussen. Beide Faktoren können sich destruktiv auf die Verhandlungsstrategie auswirken und das Verhandlungsergebnis negativ beeinflussen.
Auch in der Beurteilung des Verhandlungsgegenstandes können Wahrnehmungsverzerrungen vorliegen. So räumen wir unseren eigenen Vorstellungen meist einen höheren Stellenwert ein und verschätzen uns oftmals bei den Vorstellungen der Gegenseite. Hinzu kommt, dass wir auf unsere eigene Perspektive fixiert sind und so Schwierigkeiten haben, uns in das Verhandlungsgegenüber hineinzuversetzen. Gerade diese Empathie ist jedoch entscheidend, um produktive Verhandlungen zu führen. Professionelle VerhandlerInnen kennen diesen Umstand und nutzen ihn für ihre Zwecke.
Eine weitere Wahrnehmungsverzerrung ist die Erwartungshaltung, mit der wir in Verhandlungen gehen. Natürlich sind Vorannahmen von zentraler Bedeutung, um gut vorbereitet und strategisch an Verhandlungen heranzugehen. Dennoch können sich zu enge Erwartungshaltungen destruktiv auf Verhandlungsergebnisse auswirken. So haben PsychologInnen herausgefunden, dass wir uns bei Entscheidungen immer an anfänglichen Annahmen orientieren und diese im Verhandlungsverlauf nicht ausreichend korrigieren und anpassen können, selbst wenn dies zu besseren Ergebnissen führen würde. Geschulte VerhandlerInnen managen die Erwartung des Gegenübers hinsichtlich des Verhandlungsergebnisses.
Vorannahmen entfalten eine riskante Filterwirkung. Wir lassen alles an Informationen durch, die die Vorannahme bestätigt. Alle weiteren Informationen tilgen wir systematisch weg. Im schlimmsten Fall führen uns unsere Vorannahmen wie ein Autopilot durch die Verhandlung und leiten uns auf den falschen Weg – zu einem schlechteren Ergebnis.
Auch sogenannte Stabilitätsirrtümer beeinflussen unsere Wahrnehmung. So liegt es in der menschlichen Natur, den Status quo zu bevorzugen und Veränderungen eher zu scheuen. Auch sind wir stark Gegenwartsorientiert und messen kurzfristigen Effekten meist einen höheren Stellenwert bei, als langfristigen Erfolgen. Ein weiterer Effekt den sich professionelle VerhandlerInnen zu eigen machen.
Was bedeutet das nun für erfolgreiches Verhandeln? Ganz einfach: Wer sich im Vorfeld intensiv mit seinen subjektiven Ansichten, Erwartungen und Voreinstellungen auseinandersetzt und diese kritisch hinterfragt, schärft seine Wahrnehmung und kann so zu einer/m besseren VerhandlerIn werden. Wer seine Vorannahmen wie wissenschaftliche Thesen behandelt und diese immer wieder auf den Prüfstand stellt, kann Fehlurteile verhindern und sein Verhandlungsergebnis deutlich verbessern. Wer die Trigger hinter den verschiedenen Wahrnehmungsverzerrungen kennt und diese taktisch anzusteuern weiß, kann damit Einfluss auf Wahrnehmung und Beurteilung seines Gegenübers nehmen.
Auch die Wissenschaft beschäftigt sich in den letzten Jahren verstärkt mit den Ausprägungen und Konsequenzen unserer subjektiven Wahrnehmung. Der Rechtsanwalt und Dekan der Vanderbilt Law School, Chris Guthrie, untersuchte zum Beispiel die Auswirkungen auf juristische Entscheidungen. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2007 argumentiert Guthrie, dass Richterinnen und Richter, wie alle anderen Menschen, von drei sogenannten „Blinders“ betroffen seien, die als Bias ihre Urteilsfindung beeinträchtigen. Neben Wahrnehmungsverzerrungen, die als kognitiver Bias bezeichnet werden, existiert auch ein Informationsbias. Dieser entsteht dadurch, dass nicht alle verfügbaren Informationen, die über einen Sachverhalt existieren, in die Entscheidungsfindung einbezogen werden können. Stattdessen arbeiten wir immer mit Informationsmengen, die nur einem Ausschnitt der Wirklichkeit und dadurch einer Verzerrung dieser entsprechen. Gerade im Gerichtssaal kann es zudem vorkommen, dass Richterinnen und Richter Informationen in ihre Urteilsfindung einbeziehen, die keinen Eingang finden sollte; zum Beispiel das Wissen über Beweismittel, die im Verfahren nicht zugelassen sind. Der dritte „Blinder“ ist die politische bzw. weltanschauliche Haltung, die als unterbewusste Variable unsere Entscheidungsfindung beeinflusst.
In Gerichtsverhandlungen sind Wahrnehmungsverzerrungen besonders gravierend. Unsere Ansprüche an Neutralität und Gerechtigkeit sind hier am größten. Schließlich entscheidet jeder Richterspruch über ein Schicksal. Aber auch abseits vom Gerichtssaal ist es hilfreich, sich dem Ausmaß und den Folgen seiner subjektiven Wahrnehmung bewusst zu werden. Wer in dieser Hinsicht sensibilisiert ist, kann Verhandlungen erfolgreicher führen und bessere Ergebnisse erzielen.
Das F.I.R.E. Business Negotiation System ® beschäftigt sich intensiv mit dem Faktor der Wahrnehmungsverzerrung in Verhandlungen. Lernen Sie mehr unter c4-quadriga.eu/verhandlungsausbildung
Quellen:
- https://www.pon.harvard.edu/daily/conflict-resolution/how-ideology-leads-to-misjudging/?utm_source=WhatCountsEmail&utm_medium=daily&utm_date=2019-04-15-13-30-00&mqsc=E4046648
- https://ir.vanderbilt.edu/bitstream/handle/1803/6498/Misjudging.pdf?sequence=1&isAllowed=y+
- https://www.harvardbusinessmanager.de/blogs/die-haeufigsten-wahrnehmungsfehler-a-1095307.html
Bildquelle:
- Gerd Altmann, Pixabay | CC 0 Public Domain