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Verhandeln wir bald mit Maschinen? – Wie KI das Spiel in der Wirtschaft verändert

Verhandeln wir bald mit Maschinen? – Wie KI das Spiel in der Wirtschaft verändert

Künstliche Intelligenz analysiert Körpersprache, erkennt Emotionen in Sekundenbruchteilen und kalkuliert in Echtzeit die besten Argumentationsstrategien. Was bedeutet das für Manager, Einkäufer und Verkäufer – und wo liegen die Chancen, wo die Gefahren? Ein Blick auf die Zukunft am Verhandlungstisch.

Der neue Verhandlungstisch?

Ein grauer Konferenzraum in Bentonville, Arkansas. Dort, wo Walmart mit seinen Lieferanten Preise, Rabatte und Konditionen verhandelt, sitzt heute nicht nur ein Team aus Einkäufern. Am Tisch arbeitet unsichtbar eine Software, die in Sekundenschnelle Angebote prüft und Alternativen durchrechnet: Zahlungsziele, Lieferfristen, Rohstoffpreise, Transportkosten, Preisnachlässe, Werbekostenzuschüsse. Während früher ganze Abteilungen wochenlang Zahlenkolonnen durchforsteten, erledigt nun ein Algorithmus das Routinegeschäft.

Das estnische Start-up Pactum AI hat dafür eine Plattform entwickelt, die tausende Lieferantenverträge automatisiert anpasst. Lieferanten, die E-Mails beantworten oder Online-Formulare ausfüllen, merken oft gar nicht, dass sie es mit einer Maschine zu tun haben. Eine Maschine, die nie müde wird, nie gereizt wirkt und nie auf die Idee kommt, spontan eine Pause einzulegen.

Für Walmart ist das ein Befreiungsschlag: Verhandler konzentrieren sich auf die wirklich schwierigen taktischen Themen in Verhandlungen und sparen Zeit für Analyse und Vorbereitung. Für die Gegenseite ist es ein Schockmoment: Plötzlich verhandelt man nicht mehr mit Menschen, sondern mit einem System, das gnadenlos effizient ist und in Echtzeit Informationen prüft und bereitstellt. Willkommen am neuen Verhandlungstisch.

Aus den Laboren in die Praxis

Was vor wenigen Jahren noch wie eine Spielerei aus Universitätslaboren wirkte, ist heute Alltag in globalen Unternehmen. Juristische Kanzleien wie A&O Shearman verkürzen mit ihrer Plattform ContractMatrix die Verhandlungszeit pro Vertrag um mehrere Stunden. Das Start-up HyperStart CLM kombiniert automatisiertes Redlining, Risikoberichte und KI-gestützte Entscheidungsunterstützung – und wirbt mit bis zu 75 Prozent Zeitersparnis bei Vertragsverhandlungen. Kundenlisten reichen von Versicherern bis zu Softwareunternehmen.

Auch deutsche Anbieter ziehen nach. Statworx hat einen „KI-Verhandlungsassistenten“ entwickelt, der historische Angebote, Materialpreise, Inflationsdaten und externe Marktdaten auswertet, um Verhandlungsstrategien vorzuschlagen. Noch fehlen die großen Referenzfälle – aber die Richtung ist klar: KI-Systeme verlassen die Pilotprojekte und greifen in die Praxis ein.

Universitäten treiben die Entwicklung und Ausbildung ebenfalls voran. Wie sich reine KI-Systeme am Verhandlungstisch schlagen, zeigt die MIT AI Negotiation Competition. Dort traten Programme gegeneinander an, um Verträge auszuhandeln. Überraschend war weniger, dass die Systeme Deals zustande brachten, sondern wie sie es taten: Dominante, fordernde Bots scheiterten oft, während die „emotionale“ Systeme, die empathisch wirkten und Kooperationsbereitschaft signalisierten, die erfolgreichsten Ergebnisse erzielten. Michelle Vaccaro, die das Projekt wissenschaftlich begleitete, bringt es auf den Punkt: „Dominanz zahlt sich auch bei Maschinen nicht aus. Die Bots, die empathisch und kooperativ auftraten, erreichten die besten Ergebnisse.“

Diese Beobachtung ist mehr als ein akademisches Detail. Sie zeigt, dass selbst in digitalen Verhandlungen Werte wie Vertrauen, Sympathie und Fairness entscheidend bleiben – ob zwischen Menschen oder Maschinen.

Die KI als Flügelmann

Während Bots in Pilotprojekten wie eigenständige Verhandler agieren, gibt es auch erfolgreiche Ansätze, Künstliche Intelligenz als diskreten Coach einzusetzen. Ein Ansatz der am Center for Negotiation der Quadriga Hochschule Berlin mit verschiedenen KI-Tools zur Unterstützung von Verhandlern in der Praxis trainiert wird.

Die Systeme spielen dabei ihre Stärke im Hintergrund aus – als unsichtbare Begleiter.

So wird ein System namens MindMeld genutzt, das Verhandlern während laufender Verhandlungen in Echtzeit Tipps einflüsterte: alternative Formulierungen, Ideen für Kompromisse, Hinweise zum Tonfall. Wer die Ratschläge annahm, schnitt messbar besser ab. Samuel Dinnar, Dozent am MIT, sieht darin sogar eine Chance für Menschen, die Verhandlungen bislang aus Angst gemieden haben: „Besonders bei Menschen, die Verhandlungen scheuen, kann KI eine Brücke bauen. Sie gibt Sicherheit, bietet Trainingsmöglichkeiten und öffnet Verhandlungskompetenz für breitere Gruppen.“

Noch weiter gehen Plattformen wie Gong, die Sales- und Verhandlungsgespräche aufzeichnet und sie in Datenpunkte zerlegt: Wer sprach wie lange? Welche Begriffe fielen? Wann schwankte der Tonfall? Das Ergebnis ist ein Coaching-Tool, das Verkäufern zeigt, wo sie zu dominant auftreten oder wo eine Pause mehr Wirkung gehabt hätte.

Noch spezieller und aus europäischer Perspektive nicht Datenschutzkonform arbeitet Crystal. Das US-Tool erstellt Persönlichkeitsprofile anhand öffentlicher Daten – LinkedIn-Profile, Blogs, Social-Media-Posts. Die Empfehlung lautet dann zum Beispiel: „Seien Sie direkt, ergebnisorientiert, verzichten Sie auf Small Talk.“ Für Verkäufer ist das Gold wert, weil sie ihre Sprache sofort auf den Kommunikationsstil des Gegenübers anpassen können. Doch in Europa ist Crystal hochumstritten: Nach DSGVO gilt das automatische Erstellen psychologischer Profile ohne Zustimmung als rechtlich unsicher.

Und dann ist da TAWNY, ein Münchner Start-up, das Emotion AI entwickelt. Mit Kamera oder Sensordaten erkennt die KI Mikroexpressionen und Stressmuster, also jene winzigen Signale, die auch Profi-Verhandler trainieren. Für das Verhandlungstraining bedeutet das einen Paradigmenwechsel: Teilnehmer sehen im Nachhinein, wann sie Druck erzeugt oder Vertrauen verloren haben. Denkbar ist auch ein Live-Dashboard während virtueller Meetings. Doch hier stellen sich sofort Fragen: Wollen wir wirklich, dass eine Software uns in Echtzeit sagt, wann unser Gegenüber nervös wird?

Balance zwischen Mensch und Maschine

KI ist längst mehr als ein theoretisches Experiment. Sie verändert die Art, wie wir verhandeln – von der Vorbereitung bis zur Echtzeitunterstützung am Tisch. Doch so vielversprechend die Technik ist, sie wirft auch neue Fragen auf: Was passiert, wenn sich beide Seiten zu sehr auf Algorithmen verlassen? Werden kulturelle Nuancen eingeebnet, wenn KI Kommunikationsmuster vereinheitlicht? Und wie verhindern Unternehmen, dass ein falscher Prompt oder ein verstecktes Bias am Ende ein Millionen-Geschäft kippt?

Die Antwort liegt in der Balance. KI kann Datenberge durchforsten, Muster erkennen, Szenarien durchspielen. Doch Kreativität, moralische Abwägung und die Fähigkeit, Vertrauen aufzubauen, bleiben zutiefst menschlich. Unternehmen, die Verhandlungen der Zukunft erfolgreich führen wollen, müssen deshalb zweigleisig fahren: Datenintelligenz und Menschenkenntnis in Einklang bringen.

Die neue Macht am Tisch

Die Frage, ob wir bald mit Maschinen verhandeln, lässt sich schon heute beantworten: Wir tun es längst. Pactum, Lexion, Tawny und andere Systeme sitzen bereits mit am Tisch, oft unbemerkt, aber wirkungsvoll. Sie nehmen Routine ab, schärfen Analysen, liefern Hinweise – und verändern damit das Spielfeld. Wer die besseren Daten hat, verschafft sich Macht. Pactum oder HyperStart zeigen, wie Algorithmen standardisierte Verträge blitzschnell abwickeln. Unternehmen, die solche Systeme einsetzen, sparen Zeit und Ressourcen und setzen ihre Partner unter Druck, Schritt zu halten.

Doch Macht ist nicht nur Geschwindigkeit, sondern auch Information. KI-Systeme können erkennen, dass Lieferanten in der Vergangenheit häufiger im vierten Quartal Rabatte gaben, oder dass bestimmte Formulierungen in Verträgen regelmäßig zu Streit führten. Diese Analysen verschiebt die Balance: Wer die KI im Rücken hat, spielt mit einem Informationsvorsprung. Für kleine und mittlere Unternehmen wird das zur Herausforderung. Sie haben oft nicht die Ressourcen, um selbst komplexe KI-Systeme einzusetzen. Damit droht eine neue Asymmetrie: Konzerne mit KI-Power auf der einen Seite, weniger ausgerüstete Partner auf der anderen.

Am Ende läuft alles auf eine einfache Erkenntnis hinaus: Es geht nicht mehr darum, ob wir KI in Verhandlungen haben werden. Sie ist schon da, mal sichtbar, mal unsichtbar. Die entscheidende Frage lautet: Wie setzen wir sie ein?

Die Chancen sind gewaltig: schnellere Prozesse, bessere Vorbereitung, realistischere Trainings, weniger Routinearbeit. Die Risiken ebenso: Datenschutzprobleme, Manipulationsmöglichkeiten, der Verlust menschlicher Empathie.

Verhandlungen sind und bleiben jedoch ein Beziehungsgeschäft. Algorithmen können Muster erkennen und Optionen kalkulieren – aber Vertrauen, Kreativität und moralische Verantwortung liegen weiterhin beim Menschen. Die Zukunft des Verhandelns wird deshalb nicht Mensch gegen Maschine sein, sondern Mensch mit Maschine.

Und vielleicht ist das die eigentliche Revolution: Nicht die Ablösung des Verhandlers durch KI, sondern die Erweiterung seiner Fähigkeiten. Die Kunst wird darin bestehen, die Technik als Werkzeug zu nutzen – ohne das Menschliche aus den Augen zu verlieren.



Thorsten Hofmann, C4 Center for Negotiation

Thorsten Hofmann ist Lehrbeauftragter für wirtschaftliches und politisches Verhandlungsmanagement und Krisenkommunikation an der Quadriga Hochschule Berlin. Er leitet das C4 Center for Negotiation.

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