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Ein klarer Fall von Unklarheit – EU vs. AstraZeneca

Wie sich die EU zur Geisel der eigenen Verträge mit AstraZeneca gemacht hat, erklärt Thorsten Hofmann.


Die Europäische Union hat im August einen Rahmenvertrag von über 400 Millionen Impfdosen mit dem Pharmakonzern AstraZeneca geschlossen[1]. Am 29.01.2021 wurde das Präparat dann von der europäischen Arzneimittel-Agentur zugelassen[2]. Doch schon eine Woche zuvor hatte der Hersteller überraschend eine Lieferkürzung angekündigt[3]. Laut EU-Kommission sollten vorerst weniger als 40 Prozent der erwarteten Menge ankommen[4]. Die EU-Kommission ist erbost, weil sie der schwedisch-britischen Firma seit Vertragsunterzeichnung im August 336 Millionen Euro zur Aufstockung der Produktion zugesagt und zum Teil bereits ausgezahlt hatte. Nach EU-Lesart hätte der Pharmakonzern auf Halde produzieren müssen. Die Anschuldigungen und der Unmut der EU basieren allerdings auf dem „Prinzip Hoffnung“ gegenüber dem Hersteller, wo eigentlich klare Vereinbarungen notwendig gewesen wären. Aber „Klarheit“ wurde hier von „Mehrdeutigkeit“ abgelöst.

Oscar Wilde hat der Welt des Verhandelns ein wundervolles Zitat hinterlassen, als er auf das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und England angesprochen wurde: „Heutzutage haben wir mit den USA alles gemeinsam – bis auf die Sprache!“ Was so absurd klingt, ist wahr: Wir sprechen alle nur vermeintlich dieselbe Sprache, denn jeder füllt einen Begriff mit den eigenen Vorstellungen. Und das birgt naturgemäß die Gefahr eines Missverständnisses. Menschen sind leider nicht dazu geschaffen, von Natur aus in den gleichen Denkwelten unterwegs zu sein. Oder wie es George Bernard Shaw sagte: „Das Problem mit der Kommunikation ist, dass man glaubt, sie sei gelungen.“ Diese beiden Zitate hätten sich die Verhandler der EU vor der Vertragsverhandlung mit dem Pharmaunternehmen AstraZeneca verinnerlichen sollen.

Verhandlungen mit Monopolisten ≠ Verhandlungen bei behördlichen Ausschreibungen

Die Verhandlungen mit den potenziellen Herstellern von Impfstoffen waren keine Verhandlungen in einem atomistischen Markt oder mit einem engen Oligopol, sondern mit einem Monopol. Zwar arbeiteten MEHRERE Hersteller an unterschiedlichen Impfstoffen, aber ALLE wären zum damaligen Zeitpunkt wie Monopolisten zu behandeln gewesen. Denn wer das richtige Mittel findet, hat schlussendlich eine Alleinstellung inne. Und das ist der Punkt: Im Fall eines Monopols spielt der Preis keine Rolle mehr. Sondern die Faktoren ZEIT und VERFÜGBARKEIT sind das eigentliche Verhandlungsgut. Es geht nur noch um das Sicherstellen des Produkts. Verhandlungen mit nur drei oder vier Impfstoff-Herstellern, die sich alle als Monopolisten sehen, also erst mal keinen Wettbewerb untereinander fürchten, müssten anders ablaufen als öffentliche Ausschreibungen. Da das Impfstoff-Angebot trotz mehrerer Hersteller sehr begehrt ist – also insgesamt knapp ist und das auch auf lange Sicht bleiben wird – gibt es unter den Herstellern keinen Anreiz, sich preislich zu unterbieten oder gegenseitig auszustechen!

Bei wirtschaftlichen Verhandlungen würde man in einem solchen Fall jene drei Kandidaten, die mit größter Wahrscheinlichkeit zuerst durch die Ziellinie laufen, zusammennehmen und bei allen drei Herstellern jeweils die gleiche, große Anzahl an Impfdosen bestellen. Da die frühe Studienlage allgemein vielversprechend war und es sich um ein global nachgefragtes Produkt handelt, würde die Vereinbarung am Ende nicht als Fehlausgabe gelten. Die Verträge müssten dann beispielsweise so ausgestaltet sein, dass bei einer Nichtabnahme nur zehn bis 20 Prozent Abstandszahlung anfallen würden.

Die EU hätte einen zusätzlichen Anreiz schaffen können, indem sie bei einer frühen Lieferung z.B. im Dezember 2020 einen Aufschlag von 50 Prozent und im Januar 2021 einen reduzierten Aufschlag von nur noch 25 Prozent auf den Preis pro Dosis gewährt hätte. Konzerne wie AstraZeneca sind börsennotiert und renditeorientiert. Wir reden hierbei zwar um einen großen Geldbetrag – also eine insgesamt sehr teure Angelegenheit für die EU. Aber im Verhältnis dazu liegen die volkswirtschaftlichen Kosten einer jeden weiteren Woche Lockdown mit ca. 25 und 57 Milliarden Euro[5] deutlich höher. Abgesehen von den wirtschaftlichen Kosten sind auch die gesundheitlichen Implikationen für die Bevölkerung dabei nicht außen vor zu lassen. Jede einzelne Impfung trägt dazu bei, die Sterberate zu senken. Doch diese Berechnungen hätte es vorher gebraucht. Denn die EU steht jetzt vor dem Dilemma, die eigene Geduld bis zum Vertragsabschluss im August rechtfertigen zu müssen und sich zur eigenen Geisel der vorher unprofessionell verhandelten Verträge zu machen.

Während Großbritannien und die USA schon in den frühen Sommermonaten ihre Verträge unter Dach und Fach gebracht hatten, kam die EU erst Ende August zum Abschluss[6]. Dennoch wollte Brüssel schon zum selben Zeitpunkt beliefert werden wie die Briten – obwohl das Königreich die Verträge drei Monate früher unterzeichnet hatte. Ein professionell geführter Konzern wie AstraZeneca mit genauen Produktions- und Vertriebsplan, richtet die Planung nach der Reihenfolge der abgeschlossenen Verträge aus. Um Risiken abzusichern hat AstraZeneca zudem eine „Best-Effort“-Vereinbarung mit der Europäischen Union abgeschlossen.

Die Gefahr der Mehrdeutigkeit

Neben dem beschriebenen strategischen Betrachtungsfehler des Verhandlungsgegenstandes kam es zu einem weiteren „Kardinalfehler“, der in Verhandlungen unbedingt vermieden werden sollte. Dreh- und Angelpunkt des Streits zwischen der EU und AstraZeneca ist der, aus Sicht der EU, ungeklärte Begriff „best reasonable efforts“.

Die im Vertrag enthaltenen „Best Effort“-Klauseln („nach bestem Bemühen“) würden sich laut EU-Präsidentin von der Leyen nur auf die Entwicklung des Impfstoffs beziehen und nicht auf die Produktion. Insgesamt achtzehnmal taucht im Vertrag die erwähnte „best reasonable efforts“-Klausel auf, die eine Lieferung nach bestem Bemühen umfasst[7]. Eine unbestimmte und unklare Formulierung, die keine Verpflichtung in sich trägt und von beiden Seiten offensichtlich unterschiedlich gedeutete wurde. Ich schreibe hier bewusst „gedeutet“. Wie in dem Zitat von Oscar Wilde, muss man sich während einer Verhandlung immer wieder klar machen, dass man nicht die gleiche Sprache spricht. Sprache meint hier nicht die Muttersprache, sondern die Bedeutungssprache. Der Verhandlungspartner kann durchaus etwas anderes unter einem Begriff wie „Auto“, „Qualität“, „Zuverlässigkeit“ oder „best reasonable effort“ verstehen, als wir es tun. Professionelle Verhandler gehen in den „Kopf des Gegenübers“, erkunden seine Begriffswelt, um böse Überraschungen nach den Verhandlungen oder das Scheitern der Verhandlung zu vermeiden. Mehrdeutigkeit gibt es ständig, auch in Verhandlungen: Bei Gesetzestexten, die international unterschiedlich interpretiert werden; bei Übersetzungen, wenn ein Text missverstanden wird; bei Begriffen, die kulturell unterschiedlich bewertet werden oder auch einfach bei Fachbegriffen, die unterschiedlich verstanden oder interpretiert werden.

Die Illusion des Verstehens

Häufig unterliegen die Beteiligten in Verhandlungen der Illusion, sie hätten den anderen verstanden und die Begriffe, die er nutzt auf Anhieb durchdrungen; und so arbeiten sie mit diesen Begriffen weiter. Erst in einer späteren Phase merken sie – wie bei den Verhandlungen mit AstraZeneca – dann, dass die ganze Zeit über von unterschiedlichen Dingen gesprochen wurde, obwohl die Verhandlungsteilnehmer dieselben Worte benutzten. Aber eben nur vermeintlich. EU und AstraZeneca hatten es versäumt, herauszufinden, was der andere mit diesem Begriff verbindet, was sich für ihn dahinter verbirgt, welche Bedeutung er für ihn hat. Um auf diesem Terrain wirklich trittsicher zu sein, ist es notwendig, die Landkarte des Gegenübers zu studieren. Das heißt, die Verhandler der EU hätten in die Sprachwelt der Unternehmensrepräsentanten eindringen müssen, um sie zu verstehen. Jede Begrifflichkeit verbirgt Vorstellungen des Gegenübers. Und diese Vorstellungen herauszuarbeiten ist ein permanenter Prozess, der in einer Verhandlung niemals aufhört[8].

Der dauerhafte Abgleich von Wahrnehmung und Begrifflichkeiten ist erfolgskritisch. Gerade bei abschließenden Vertragstexten ist dies essenziell, wie das Beispiel der EU-Beschaffung zeigt.

Sobald ein neuer Begriff eingeführt wird, ist es zwingend notwendig, diesen regelrecht abzuklopfen: Was genau meint die Gegenseite mit diesem Begriff? Was löst er bei einem selbst aus? Es mag verwundern, dass dieses Thema so große Aufmerksamkeit erhält. Vor allem dann, wenn es um Verhandlungsgegner geht, die dieselbe Muttersprache sprechen und in der gleichen Branche tätig sind. Was soll da an sprachlichen Missverständnissen auftreten?

In den meisten Verhandlungen wird aber genau dieser Ansatz nicht berücksichtigt. Erinnern Sie sich einfach mal daran, wie es bei Ihnen ist, wenn Sie sich im Gespräch mit anderen befinden. Wie oft gehen Sie davon aus, verstanden zu haben, was der andere meint? Und wie oft ist es Ihnen passiert, dass das Gegenüber sich missverstanden fühlte, wenn Sie seine Aussagen mit eigenen Worten wiederholten? Auf einmal tauchen Widersprüche auf und es ist klar, hier wurde nicht das verstanden, was gesagt wurde, und nicht gesagt, was verstanden wurde. Es wurde einfach nur interpretiert und das Wort des Gegenübers mit der Bedeutung abgeglichen, die es für einen selbst hat. Ein Fehler, der im normalen Alltag schon für Konflikte sorgt und in Verhandlungen sogar einen Abbruch bedeuten kann.

Vor einigen Jahren wurde ich zu einer Verhandlung hinzugezogen, bei der es um erhebliche Schadensersatzforderungen ging. Ein pharmazeutisches Unternehmen hatte bei einem Produzenten das Abfüllen eines Medikamentes in sogenannten Vials geordert. Vials sind kleine Fläschchen, die in der Medizin und in chemischen Laboratorien benutzt werden. Darin können pulverförmige Arzneistoffe, Lösungen oder Suspensionen in Einzeldosis oder Mehrfachdosis abgefüllt werden. Verschlossen werden sie mit einem Gummistopfen (Injektionsstopfen) oder mit einer Durchstichmembran.

Der Begriff »Vial« sorgte im Verlauf für hohe Forderung des pharmazeutischen Kunden gegenüber dem europäischen Lieferanten. Die eine Seite ging davon aus, dass der Flaschenboden als „runder“ Boden produziert werden sollte. Das pharmazeutische Unternehmen brauchte aber einen „gerundeten“ Boden (einen HS-Boden). Die Folge des unterschiedlichen Begriffsverständnisses zog sowohl Probleme in der Logistik als auch in der Handhabung nach sich.

Der Kunde bestand darauf, dass alle Vials  –  und das waren einige Millionen – in die gewünschte Form mit abgerundeten Boden umgefüllt werden. Wer sollte die erforderliche Änderung nun bezahlen? Den Vertragstext hatten beide Parteien unterschrieben, keine Partei hatte auf ein mögliches Missverständnis hingewiesen, weil es aus beiden Perspektiven »klar« geregelt war. Interessant ist an diesem Fall, dass die Möglichkeit einer anderen Interpretation bei Vertragsunterzeichnung nicht gesehen wurde. Es war keine Täuschungsabsicht oder Manipulation erkennbar, es war einfach die Mehrdeutigkeit des Begriffs „Vials“.

Was genau erwartet der andere? Welche Vorstellungen hat er? Die Aufgabe lautet, in die Welt des Gegenübers einzudringen. Denn bin ich in seiner Sprachwelt angekommen, bin ich auch in seinem Kopf. Und bin ich in der Lage, seine Begrifflichkeiten zu verstehen, können Missverständnisse und Mehrdeutigkeiten aus dem Weg geräumt werden. Tatsächlich sind ungeklärte Begriffe häufig der Grund, weshalb Verhandlungen im laufenden Prozess scheitern. Manchmal kommt es vor, dass die beiden verhandelnden Parteien den jeweils anders gedeuteten Begriff nicht mehr zurückverfolgen können und die Verhandlung letztlich wegen eines anderen Themas scheitert. Der ursprüngliche Grund – der “ungeklärte“ Begriff – bleibt im Verborgenen.

Missverständnisse beruhen meist nicht auf böser Absicht, sondern auf dem Aufeinandertreffen von mehrdeutigen Übersetzungen oder Sichtweisen. Und mit zunehmender Globalisierung werden auch die Missverständnisse in Verträgen und Abmachungen weiter zunehmen. Selbst wenn hierbei eine gute Absicht von allen Vertragsparteien zugrunde liegt. Als Sieger geht am Ende nur der vom Platz, der sich die Mühe macht, die Sprachwelt des Gegenübers zu verstehen.

Ein Bemühen, das hoffentlich auch in Zukunft bei der EU berücksichtigt wird.


[1] Quelle: EU und Astrazeneca: Panne bei veröffentlichtem Vertrag – ZDFheute

[2] Quelle: EU lässt AstraZeneca-Impfstoff zu | NDR.de – Fernsehen – Sendungen A-Z – Panorama die Reporter

[3] Quelle: vgl. ebd.

[4] Quelle: vgl. ebd.

[5]Die volkswirtschaftlichen Kosten des Corona-Shutdown für Deutschland: Eine Szenarienrechnung | Veröffentlichung | ifo Institut

[6] Quelle: AstraZeneca: EU-Kommission bestellte Impfstoff zu spät | DiePresse.com

[7]Quelle: Contract between European Commission and AstraZeneca (europa.eu)

[8] Das FBI-Prinzip, Thorsten Hofmann, Ariston, ISBN: 978-3-424-20172-7 Das FBI-Prinzip – Verhandlungstaktiken für Gewinner (das-fbi-prinzip.de)


Thorsten Hofmann, C4 Center for Negotiation

Thorsten Hofmann ist Lehrbeauftragter für wirtschaftliches und politisches Verhandlungsmanagement und Krisenkommunikation an der Quadriga Hochschule Berlin. Er leitet das C4 Center for Negotiation.

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