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Regierungsbildung: Wer gut verhandeln will, muss zuhören lernen.

Für die Regierungsbildung sind Koalitionsverhandlungen unerlässlich. Doch welche Strategien zählen, um sich einig zu werden? Der Psychologe und Kriminologe Thorsten Hofmann war Ermittler beim Bundeskriminalamt (BKA) und hat mit Geiselnehmern verhandelt. Im Interview mit Zeit Online erklärt der Verhandlungsexperte Thorsten Hofmann die Mechanismen von Verhandlungen. 


Dieses Interview erschien bei ZEIT Online und ist hier abzurufen.


ZEIT ONLINE: Herr Hofmann, im Wahlkampf haben Parteien viel versprochen. Jetzt müssen sie in Koalitionsgesprächen mit anderen Parteien zurückstecken und können Wahlversprechen womöglich nicht einhalten. Verraten sie damit ihre Werte?

Thorsten Hofmann: Zunächst mal ist die Frage, was Werte in diesem Zusammenhang bedeuten. Gehen wir davon aus, dass wir von politischen Positionen sprechen. Die Parteien schreiben in ihren Wahlprogrammen auf, wie sie handeln würden, wenn sie allein regieren. Dann hat der Wähler die Möglichkeit, ein Parteiprogramm zu wählen – das ist ja vereinfacht eine bestimmte Position. Doch die Partei wird meist nicht mit der absoluten Mehrheit gewählt und so treffen im Zuge der Verhandlungen mindestens zwei Parteien mit unterschiedlichen Positionen aufeinander. Einfach auf einer Extrem-Position zu verharren, ist also nicht möglich. Wenn es schon als Werteverrat gesehen wird, wenn man von der eigenen Position abweicht, um eine gemeinschaftliche Lösung zu finden, sind Verhandlungen von vornherein ausgeschlossen.

ZEIT ONLINE: Während der jetzigen Koalitionsverhandlungen hat sich wieder gezeigt: Parteien lassen sich häufig offen, mit welchen Parteien sie koalieren. Eine Neuauflage der großen Koalition haben CDU und SPD hingegen eher nicht in Erwägung gezogen. Haben sie dadurch ihre Positionen für die Verhandlungen geschwächt?

Hofmann: Sicherlich haben FDP und Grüne dadurch in den Verhandlungen einen größeren Hebel als es ihrem Wahlergebnis eigentlich gerecht würde. Allerdings muss man zwischen wahltaktischen und verhandlungstaktischen Prinzipien unterscheiden. Die SPD und CDU haben sich im Wahlkampf positioniert, indem sie gesagt haben, dass sie unter keinen Umständen eine Fortsetzung der großen Koalition möchten. Diese Einschränkung führt zum Zwang, mit Grün-Gelb zu koalieren.

ZEIT ONLINE: Das Selfie von Baerbock, Habeck, Lindner und Wissing wurde in den vergangenen Tagen viel geteilt. Olaf Scholz nannte die Ampel in den Medien eine Koalition, in der „echte Zuneigung“ entstehen kann und Armin Laschet bezeichnete das Wahlergebnis einen „klaren Auftrag“ seiner Wählerinnen und Wähler. Sie alle beziehen die Öffentlichkeit in die Verhandlungen mit ein. Was bringt das?

Hofmann: Es geht bei öffentlicher Kommunikation immer um Deutungshoheit. Beispielsweise versuchen Parteien im Wahlkampf Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften oder Verbände zu aktivieren, sich zu bestimmten Themen zu äußern. Später können sie dann bei den Verhandlungen auf deren Themensetzung verweisen. Das Thema
ist dann bereits im öffentlichen Diskurs und die Partei kann klarstellen, dass es auf keinen Fall fallengelassen werden
sollte. Auch das Wahlergebnis ist zu einem gewissen Grad immer der öffentlichen Deutung unterlegen. So wollte Laschet zunächst einen Verlust an Wählerstimmen wie einen Regierungsauftrag aussehen lassen. Das Wichtigste für
einen geordneten Verhandlungsablauf ist nun sicherlich, dass mögliche Koalitionspartner nach außen gemeinschaftliches Handeln spiegeln, ohne öffentlich darüber zu sprechen, wie weit sie schon über welchen Punkt verhandelt haben. Sonst könnten sie damit Koalitionspartner verprellen, die Themen vielleicht noch nicht abgeschlossen haben.

ZEIT ONLINE: Was macht eine gute Verhandlerin aus?

Hofmann: Erst mal muss ich klarstellen: Jeder Mensch kann das Verhandeln lernen. Es ist keine angeborene Fähigkeit. Wer gut verhandeln will, muss zuhören lernen. Damit meine ich, wirklich versuchen zu verstehen, was der andere will. Wer nur rhetorisch brilliert oder die Meinung des anderen zunichte machen will, ist vielleicht ein guter Wahlkämpfer, aber kein guter Verhandler. Wenn ich dem Argument des anderen nur bis zur Hälfte zuhöre und dann beginne zu überlegen, was ich darauf antworte, rede ich mehr mit mir als mit meinem Gegenüber. Stattdessen sollte man am Anfang jeder Verhandlung herausfinden, was der andere wirklich unter bestimmten Begriffen versteht. Zum Beispiel ist das Wort Qualität für die meisten ein sehr positiv belegtes Wort. Doch es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen, was Qualität eigentlich bedeutet. Was den Kontext des Urlaubs betrifft, bedeutet Qualität für den einen beispielsweise ein Kulturtrip mit Museumsbesuchen, für die andere eine Berghütte ohne Störung. Meine erste Aufgabe muss also sein, die Begriffe des anderen zu verstehen, auf denen er seine Forderungen aufbaut.

ZEIT ONLINE: Das heißt, wer zuhört und fragt statt argumentiert, gewinnt nachher die Verhandlung?

Hofmann: So einfach lässt sich das selbstverständlich nicht sagen. Aber Zuhören ist für den Beginn von Verhandlungen wichtig. Nur so lässt sich eine Beziehungsebene aufbauen. Man lernt über die Gründe, weswegen Forderungen aufgestellt werden und wo die sogenannten „red buttons“ des anderen liegen. Also die Themen, die den anderen vielleicht auch emotional werden lassen. Und dann sollte man sich fragen, woran das liegt und wie man diese Knöpfe wirklich bedient. Wer den anderen nur systematisch verletzt, bekommt häufig eine Trotzreaktion. Das ist für die Verhandlung kontraproduktiv.

ZEIT ONLINE: Was wäre besser?

Hofmann: Den anderen zu analysieren. Es gibt verschiedene Persönlichkeitsprofile, etwa den narzisstischen, den gewissenhaften oder den wachsamen Typen. Wer es mit einem eher narzisstischen Gegenüber zu tun hat, könnte diesen Menschen viel loben. Bei einem eher wachsamen Menschen sollte man das auf keinen Fall tun. So jemand wird
dann eher misstrauisch. Angela Merkel ist zum Beispiel eher ein gewissenhaft wachsamer Typus, der sich nicht mit
Schmeicheleien überzeugen lässt, sondern womöglich eher mit detaillierten Erklärungen. Wer das Persönlichkeitsprofil des anderen ausgemacht hat, kann anfangen, Gemeinsamkeiten zu finden. Vielleicht spricht man über die Leidenschaft für Fußball oder für gutes Essen. Damit schafft man Vertrauen. Erst wenn es eine Vertrauensgrundlage gibt, sollte man über Forderungen reden. Dann sprechen sie den anderen eher an, als ihn nur zu irritieren.

ZEIT ONLINE: Kann man das auch auf den Berufsalltag übertragen? Zum Beispiel, wenn die Chefin ein Projekt canceln will, von dem man selbst überzeugt ist, dass es sinnvoll ist?

Hofmann: Wir verhandeln praktisch in allen Bereichen des Lebens. Ob mit der Partnerin über den nächsten Urlaub, mit
den Kindern über die Zubettgehenszeit oder eben im Beruf. Und auch hier gilt: Warum fordert der andere, was er fordert? Will die Chefin das Projekt canceln, weil die Mitarbeiterzufriedenheit unter den Erwartungen ihrer Vorgesetzten zurückbleibt? Oder will sie es, weil es im Unternehmen nicht sichtbar ist? Es gibt viele Motive, wieso ich etwas möchte oder ablehne. Auf die kann man sich einstellen und detailliert erklären, wie man die Sichtbarkeit erhöht oder die Mitarbeiterzufriedenheit verbessert.

ZEIT ONLINE: Und wenn die Vorgesetzte darauf nicht eingeht?

Hofmann: Man sollte sich bei allen Verhandlungen vorher überlegen: Was sind meine zusätzlichen Forderungen? Was ist meine rote Linie? Wenn es zum Beispiel um das Gehalt geht, sollte ich mich vorher fragen: Was ist das Mindeste, mit dem ich zufrieden bin? Oder gibt es andere Verbesserungen, mit denen ich einverstanden wäre, etwa mehr Urlaubstage, Weiterbildung oder einen Dienstwagen. Bei der roten Linie sollte man sich überlegen, wann kein Abschluss besser ist als ein Angebot noch zu akzeptieren. Und was sind dann meine Alternativen? Der Arbeitnehmer
ist nicht so machtlos, wie er häufig denkt. Der Arbeitgeber steht unter dem Druck, seine Mitarbeiter zu halten.

ZEIT ONLINE: Wie kompromissbereit sollte man sein?

Hofmann: Ein Kompromiss sollte nicht das Ziel sein, er wird häufig damit gleichgesetzt, dass man sich in der Mitte
trifft. Eigentlich bedeutet das nur, dass mindestens einer von beiden keine Lust mehr hatte, zu verhandeln. Und niemand konnte seine Ziele gänzlich erreichen. Deshalb ist es wichtig, die Interessen des anderen zu kennen. Nehmen wir an, wir haben eine Orange und beide wollen sie. Man könnte sie durchschneiden, das wäre der Kompromiss. Aber
vielleicht reicht eine halbe Orange nicht aus. Vielleicht fragt man den anderen, was er mit der Frucht tun will. Stellt sich heraus, dass er einen Kuchen backen will, man selbst möchte aber daraus Saft pressen, wäre auch eine andere Lösung denkbar als das paritätische Aufteilen. Für den Kuchen braucht es nämlich nur die Schale, für den Saft das Fleisch. Man muss nicht immer einen Kompromiss schließen, damit beide Seiten zufrieden sind.

ZEIT ONLINE: Was sollte man bei Verhandlungen auf keinen Fall tun?

Hofmann: Sich nicht vorbereiten – denn das ist die Vorbereitung zur Niederlage. Wer keine Ziele definiert, sich keine zusätzlichen Forderungen überlegt und vorher nicht versucht, sein Gegenüber kennenzulernen, hat einen schlechten Stand bei der Verhandlung.

ZEIT ONLINE: Sie haben vor einigen Jahren beim Bundeskriminalamt gearbeitet. Dort verhandelten Sie auch mit Geiselnehmern. Also mit Menschen, die in Extremsituationen sind und womöglich spontan und irrational handeln. Wie bleibt man da selbst ruhig?

Hofmann: Indem man Affektkontrolle lernt. Das ist die Fähigkeit, aktuelle Wünsche oder Emotionen zurückzustellen zugunsten eines späteren größeren Nutzens. Die Affektkontrolle ist genetisch zwar weitgehend fixiert, das heißt, ob man emotional eher zurückhaltend oder stark beteiligt ist, ist zu einem hohen Grad angeboren. Das kann man am Marshmallowexperiment sehen: Wissenschaftler der Universität Stanford setzten Kindern jeweils einem Marshmallow vor. Und sie sagten ihnen, dass sie noch ein zweites Marshmallow bekommen, wenn sie das erste nicht essen, sondern abwarten. Dann verließen die Erwachsenen den Raum und ließen die Kinder vor dem Teller mit dem Marshmallow allein. Ein Teil der jungen Versuchspersonen aß das Marshmallow auf, obwohl es ja klüger gewesen wäre abzuwarten. Das Experiment zeigte, dass einige Kinder noch keine Affektkontrolle haben. Sie können ihre Gefühle nicht gut kontrollieren. Wir nehmen alle kognitiv und affektiv wahr, also vereinfacht analytisch und emotional. Das passiert automatisch und ist nicht voneinander zu trennen. Aber man kann lernen, den emotionalen Bereich deutlich besser zu kontrollieren und zu kanalisieren. Wenn Sie gut verhandeln wollen, müssen Sie das auch. Sie müssen spontane Handlungen vermeiden. Das bedeutet nicht, dass man nicht laut werden darf, sondern man muss es kontrolliert tun – und nicht, wenn Emotionen einen überkommen.

ZEIT ONLINE: Gibt es Tipps, die dabei helfen?

Hofmann: Eine Strategie ist die sogenannte dissoziierte Reaktion: Wenn man bemerkt, dass eine Emotion, wie zum Beispiel Ärger hochkommt, versucht man zu analysieren, warum man sich gerade so fühlt. Man nimmt praktisch die Adlerperspektive auf die Emotion ein. Durch das Verständnis, was bei einem selbst Ängste und Ärger auslöst, kann man sie besser kontrollieren.

ZEIT ONLINE: In Verhandlungen mit Entführern ist das sicherlich sinnvoll. Aber gilt das auch für Freundschaften oder Partnerschaften? Gefühle nicht zuzulassen, klingt berechnend.

Hofmann: Es geht eher darum, Emotionen bewusst wahrzunehmen und sie zielgerichtet zu nutzen. Wer in einer persönlichen Beziehung nicht sofort aggressiv reagiert, kann viel besser erklären, weshalb er sich angegriffen fühlt – ohne den Partner zu verletzen, indem man ihn anschreit oder die Tür zuschlägt.

ZEIT ONLINE: Welcher der aktuellen Spitzenkandidaten ist aus Ihrer Sicht ein guter Verhandler?

Hofmann: Alle vier sind sicherlich gut und erfahren. Lindner und Habeck haben schon Koalitionsverhandlungen geführt, Habeck hat eine Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein gebildet. Scholz ist international erfahren und war auch maßgeblich am letzten großen Koalitionsvertrag beteiligt, der eine deutliche sozialdemokratische Handschrift trägt. Und Annalena Baerbock hat viele Jahre in der Programmkommission der Grünen gearbeitet und verhandelt. Hier wird um Worte und Formulierungen gerungen und man muss am Anfang wissen, wie man etwas als Formulierung einbringt, um am Ende das Ergebnis zu erhalten, welches man benötigt.


Zu Thorsten Hofmann: Als Verhandlungsberater stützt Thorsten Hofmann sich auf eine langjährige Berufserfahrung als professioneller Verhandler. Als ehemaliger Ermittler des Bundeskriminalamtes (BKA) und des INTERPOL National Central Bureau (NCB) war er als Verhandlungsexperte im Bereich Organisierte Kriminalität tätig. Dabei arbeitete er unter anderem bei einigen der spektakulärsten Erpressungsfälle und Geiselnahmen im In- und Ausland mit.

Mit seiner mehr als 25-jährigen Erfahrung als Verhandlungsexperte und einem umfangreichen Ausbildungsspektrum im Bereich Verhandlungsführung und Krisenmanagement berät Thorsten Hofmann in schwierigen und erfolgskritischen Verhandlungsfällen. Zu seinen Kunden zählen Konzerne, Verbände, mittelständische Unternehmen, NGOs, Privatpersonen und politische Parteien. Auf nationaler als auch auf internationaler Ebene.